Corona-Müde?
„Helfen kann, reflexiv in eine innere Auseinandersetzung zu gehen – so können Veränderungen zum inneren Wachstum führen“, sagt Dr. Alexandra Mihm, Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Dr. Alexandra Mihm, Direktorin der Klinik für Psychsomatische Medizin und Psychotherapie erklärt, was Krisen – wie die Corona-Pandemie – in vielen Menschen auslösen und gibt Ratschläge wie wir gestärkt aus ihnen herauskommen können:
„Anfangs wurde die Gefahr durch Corona im weit weg entfernten China gesehen. Dass es uns hier in Europa treffen könnte, war zunächst unvorstellbar. Unser Erfahrungswert war, dass wir nur über die Medien mit den Katastrophen der Welt zu tun haben. Als das Virus in Europa angekommen war, entstand eine große Bestürzung. Die mit der neuen Lage verbundene Angst und das erhöhte Erregungsniveau führten zu Aktionismus, viele Menschen versuchten durch Taten dem Virus zu begegnen: zum Beispiel mit Hamsterkäufen und Vorbereitungen auf eine Quarantäne. Immer neue Einschränkungen zu bewältigen und die große Ungewissheit forderten viele Kräfte. In diesem Stadium waren alle Aktivitäten und Fantasien auf das Bewältigen des neuen Ausnahmezustandes gerichtet.
Der Sommer brachte mit dem Zurückgehen der Infektionszahlen dann eine gewisse Entlastung. Regeln und Beschränkungen wurden zu einer neuen Gewohnheit. Ein Teil der alten Freiheiten und Gewohnheiten konnte zurückkehren, was quasi als Belohnung erlebt wurde. Verbunden war das mit dem Stolz, dass sich die Anstrengungen gelohnt haben.
Der Anstieg der Infektionszahlen und der erneute Lockdown jetzt im Herbst bringt die Erinnerung an die oft noch nicht verarbeiteten Erfahrungen aus dem Frühjahr zurück. Bei vielen Menschen sind die Anstrengungen und die Verausgabungen, die nötig waren, noch nicht wirklich verarbeitet und die Erholung noch nicht wirklich erfolgt. Zudem wird der Anstieg der Infektionszahlen subjektiv als Schuld erlebt, doch nicht genug getan zu haben und wie Sisyphos quasi wieder am Fuße des Berges zu stehen, der einst sehr mühsam erklommen wurde.
Die Corona Pandemie hat Allen sehr viel abverlangt. Ein hohes Maß an Anpassungsleistung war notwendig, um mit der neuen Situation von Home-Schooling bis Home-Office, der Umstellung von Gewohnheiten, dem Umgang mit der Maske als sichtbares Zeichen eines neuen Lebens und einer neuen Realität zurechtzukommen. Insbesondere die Einschränkungen von wesentlichen Grundbedürfnissen müssen ausgehalten und verarbeitet werden – wie dem Wunsch nach sozialen Kontakten, nach Nähe, Umarmungen, Bezogenheit, auch der Verlust von informellen Kontakten und dem persönlichen Austausch am Arbeitsplatz.
Auch wenn im Rationalen die Fakten klar sind, ein Anstieg der Infektionszahlen der kühlen Jahreszeiten und dem vermehrten Aufenthalt in Räumen zuzuschreiben ist, ist die subjektive Verarbeitung und das dann dadurch hervorgerufene Erleben oft anders. Erlebt wird ein Verlust der Sicherheit, das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben. Dabei tritt bei vielen Menschen automatisch ein Schulderleben auf, da die Veränderungen dem eigenen Verhalten zugeschrieben werden. Dieser Verarbeitungsmechanismus führt bei Vielen zu einer depressiven Reaktion. Diese depressive Verarbeitung wird zusätzlich verstärkt durch den Wegfall an Ressourcen, der sozialen Distanzierung, der Vereinsamung, dem Wegfall von Hobbys, Sport. Hinzukommen die Veränderung der Natur im Herbst und die Dunkelheit, die eben nicht mehr zur Entdeckung einlädt und weniger einen hilfreichen Ausgleich bietet.
Fehlende psychische Bewältigungsmechanismen führen oft zu vermehrtem Gebrauch von Suchtmitteln, oft von Alkohol mit dem Wunsch der Betäubung und danach, innerlich Abstand zu gewinnen. Verbunden ist dies aber mit der Folge, dass eine Bewältigung noch weniger gelingt.
Ein anderer Umgang ist es, die Krise und das Virus komplett zu verleugnen. Diese innere Verleugnung, die auch in Form einer Volksbewegung erkennbar ist, kann als eine mögliche Abwehr von tiefen existenziellen Ängsten verstanden werden: Die Angst und die mit der Situation verbundenen Ohnmachtsgefühle müssen nun nicht mehr im eigenen Inneren ausgehalten und erlebt werden, sondern können bei den anderen bekämpft werden. Der dadurch entstehende Aktivismus bekämpft Hilflosigkeitsgefühle und Ohnmachtsgefühle; die Schuldzuschreibungen an die Politik und an die Wissenschaftler helfen eigene Schuld und Insuffizienzgefühle zu verdrängen, beziehungsweise auf andere zu projizieren. In dem dann entstehenden neuen Weltbild wird aus der eigenen unerträglichen Verzweiflung der Glaube an vermeintlich einfache Antworten und Verheißungen.
Was hilft nun gegen Corona-Müdigkeit, gegen aufkommende Depressionen?
Tipps und Ratschläge gibt es sehr viele und die meisten sind richtig. Oft werden diese jedoch auch als erdrückend erlebt, weiß doch ein jeder oft sehr gut und ganz genau was ihm fehlt, was er verloren hat, aber auch, was er tun könnte.
Vielleicht hilft ein anderer Weg, nämlich reflexiv in eine innere Auseinandersetzung zu gehen. Das beinhaltet die Herausforderung der aktuellen Zeit anzuerkennen, sich in eine eigene Standortbestimmung zu begeben: Wir befinden uns immer noch am Beginn der Pandemie. Es kann sein, dass wir Corona als einen bleibenden Teil annehmen müssen. Das heißt, dass wir das Virus in gewisser Weise versöhnlich integrieren müssen, dass wir Lockdowns zum Abflachen der Kurve – „flattening the curve“ – , zum Schutz anderer und vor Überlastung unserer Gesundheitssysteme akzeptieren müssen. Dies wahrzunehmen und anzuerkennen, lässt uns in eine andere innere Auseinandersetzung kommen. Wir müssen uns mit den eigenen existenziellen Themen und den eigenen Werten auseinandersetzen.
In Krisen wird immer deutlich, dass wir von der Solidarität und der Unterstützung leben, die wir uns selber und die wir anderen geben. Hilfe finden wir etwa in zahlreichen guten und unterstützenden Podcasts, Hilfe geben können wir zum Beispiel durch Spenden an die derzeit gebeutelten Kulturbetriebe. Wichtig dabei ist, eine nüchterne Klarheit bezüglich der Lage zu erlangen: Auch wenn diese nicht rosig ist, können wir dann mit dem was kommt, besser umgehen. Klarheit hilft, ein gewisses inneres Maß an Sicherheit aufzubauen.
Corona hat uns verändert und wird uns weiter verändern. Die Hoffnung ist, dass diese inneren Veränderungen bei uns zu einem psychischen Wachstum führen. Ein gewisses depressives Durchleben und Hinterfragen ist dabei ein natürlicher Teil der Bewältigung auf dem Weg zu einer neuen inneren und äußeren Haltung der Zuversicht.“
© Pressemitteilung Klinikum Darmstadt GmbH vom 10.11.2020
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Eva Bredow-Cordier
Pressesprecherin
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